Sonntag, 22. März 2009

Liebes Tagebuch,

erinnerst Du Dich noch, wie ich Großmutters Stiefel auf dem Dachboden fand?
Ein wenig Schuhcreme, bisi polieren ... supergoil ... fast wie neu ... schon eingetragen, kaum Blasen ... einfach ein Traum ... schwarzes Leder ... beschlagene Absätze ... Highheels ... geschnürt bis über die Knie ... was stört es, dass ich ne halbe Stunde brauche, um sie anzuziehen ... eine Dame hat das Recht, sich ein wenig zu verspäten ... je mehr, desto eigenwilliger ist sie ... nur zu sehr darf es nicht sein. Balance ist wichtig. Balance und Stil ... darauf kommt es an.

Bedingen die beiden sich nicht sogar?
Kann man Stil ohne Balance haben? Balance ohne Stil funktioniert ... das ist alltäglich, das ist pure Langeweile!

... aber ich hab mich verheddert ... verheddert wie auch in meinen Schnürsenkeln.

Ist Dir das auch schonmal passiert? Vielleicht als kleines Kind noch? Dass Du in Deinen Schnürsenkeln einen Knoten hattest, den Du einfach nicht mehr lösen konntest? Vielleicht sogar ein ganzes Batallion Knoten ... Du willst los, hast Dich schon verspätet ... aber Du kannt die Schuhe weder ordentlich schnüren noch wieder ausziehen ... überkniehohe Stiefel sind einfach lächerlich, wenn sie nicht ordentlich geschnürt wurden.

Also sitzt Du da ... knüpperst am Knoten rum, brichst Dir einen Nagel nach dem anderen ab ... Deine Bahn ist auch schon längst weg ... heiße Wuttränen schießen in Deine Augen, denn auch der wütende Tritt gegen die Tür schmerzt ... schimpfst mit Dir ... schließlich ist es einfach lächerlich ... ein Schnürsenkel raubt Dir die Fassung???

Trotzdem ... der Stiefel hockt an Deinem Bein ... und irgendwie wird er trotz aller Bequemlichkeit langsam eng ... und heiß wird es auch noch ... Du kannst förmlich spüren, wie sich der Dein Fuß und Deine Wade ausdehnen, quetschen ... Schweiß kitzelt unter Deiner Sohle ...

Was tut ein schlauer Mensch in einer solchen Situation?

Richtig ­ sie schließt die Augen, atmet ein paar Mal tief durch, holt sich ein Glas kaltes Wasser und ein Buch. Vorzugsweise "Das Focaultsche Pendel" ­ ohne Konzentration und Ruhe ist das nämlich ein wirres Durcheinander ... man beraubt sich sämtlicher Lesefreuden ...

... und am Ende kommt die Idee ...

Eine Schere.

Eine Schere???

ICH soll MEINE Stiefel untragbar machen??? meine geliebten Stiefel??? Großmutters Stiefel!
Lieber sitze ich noch eine Weile hier rum ... lese ... trinke Wasser ... pule ab und zu halbherzig am Knoten ...

... aber irgendwann ist auch der letzte Fingernagel abgebrochen ... irgendwann wird die Bank, auf der Du sitzt wirklich unbequem ... Po und Rücken schmerzen, Dein Bein ist eingeschlafen ...

Die Schere lockt ... glitzert im Licht der Deckenbeleuchtung ... kühl liegt sie in Deinen Händen ... langsam erwärmt sich das Metall ... der Fremdkörper wird zum Freund.

... RITSCHRATSCH ... die Entscheidung ist getroffen ... ich bin frei ... der Knoten ist durch!

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